Nebennierenkrebs: Bei niedrigem Rückfallrisiko kein Mitotane

In der klinischen Studie ADIUVO konnten die Professoren für Innere Medizin und Endokrinologie Martin Fassnacht (Universität Würzburg) und Massimo Terzolo (Universität Turin, Italien) mit ihren Teams zeigen, dass nicht alle Patientinnen und Patienten mit Nebennierenkarzinom nach kompletten Tumorentfernung die bisherige Standardtherapie Mitotane benötigen.

Würzburg. Nachdem Martin Fassnacht und Massimo Terzolo im Jahr 2007 im New England Journal of Medicine die grundsätzliche Wirksamkeit von Mitotane beim Nebennierenkarzinom zeigen konnten, hatte sich das Medikament weltweit als Standardtherapie zur Rückfallprophylaxe nach der chirurgischen Entfernung des Tumors etabliert, unabhängig von damals noch unbekannten Risikofaktoren. Mitotane hemmt die Zellteilung in der Nebennierenrinde und wirkt so dem Tumorwachstum entgegen. Das Risiko, dass die Erkrankung nach der Operation wieder auftrat, war in der Kontrollstudiengruppe, die kein Mitotane erhielt, dreimal so hoch wie in der Mitotane-Gruppe. Und das Risiko, an der Erkrankung zu sterben, wurde durch die Therapie nahezu halbiert. Das deutsch-italienische Team hatte neue Standards gesetzt bei der Behandlung des sehr seltenen aber äußerst aggressiven Tumors.

Neue Erkenntnisse im The Lancet Diabetes & Endocrinology veröffentlich

„Unsere Erkenntnisse von 2007 gelten immer noch, jedoch nur noch für Patientinnen und Patienten mit normalem oder hohem Rezidiv-Risiko“, erklärt Prof. Dr. Martin Fassnacht, Leiter des Lehrstuhls Endokrinologie und Diabetologie am Universitätsklinikum Würzburg. In einer neuen klinischen Studie, die im August 2023 im Journal The Lancet Diabetes & Endocrinology veröffentlicht wurde, hat er mit Massimo Terzolo und weiteren Mitarbeitenden herausgefunden, dass die Gabe von Mitotane nicht nötig ist, wenn die Patientinnen und Patienten drei Faktoren erfüllen. Erstens: Die Operation war komplett, sogenannte R0-Resektion. Zweitens: Das Tumorstadium war niedrig und es hatte noch keine Streuung stattgefunden. Drittens: Der Zellteilungsmarker Ki-67 liegt unter 10 Prozent. Wenn also das Risiko eines Rückfalls niedrig ist.

ADIUVO zeigt keine Verbesserung bei niedrigem Rezidivrisiko

ADIUVO ist die erste randomisierte Studie weltweit zur adjuvanten Therapie beim Nebennierenkarzinom überhaupt. Insgesamt wurden 91 Patientinnen und Patienten in 23 Zentren in sieben Ländern nach der operativen Entfernung ihres Nebennierenrindenkarzinoms und niedrigem bis mittlerem Rezidivrisiko (R0-Resektion, Stadium I-III, Ki67 ≤10%) nach dem Zufallsprinzip entweder zwei Jahre lang mit der oralen Einnahme von Mitotane behandelt oder “nur” mittels Bildgebung und Laborkontrollen überwacht. Die Wirksamkeit von Mitotane gegenüber der reinen Überwachung wurde anhand des rezidivfreien Überlebens (RFS für recurrence-free survival) bewertet. Die 5-Jahres-RFS-Rate betrug 79 % in der Mitotane-Gruppe und 75 % in der Überwachungsgruppe. Die 5-Jahres-Gesamtüberlebensrate unterschied sich statistisch nicht signifikant. Bei allen Studienteilnehmenden, die Mitotane erhielten, traten jedoch unerwünschte Ereignisse auf, acht Personen brachen die Behandlung ab. Eine Mitotane-Behandlung kann mit Übelkeit, Durchfall und Schwindel bis hin zu Sprechstörungen verbunden sein. Patientinnen und Patienten, die sich nicht randomisieren lassen wollten, wurden in einer prospektiven Nachbeobachtungsstudie nachverfolgt. Dies waren 95 Personen, von denen 42 mit und 53 ohne Mitotane betreut wurden. In dieser Parallelstudie bestätigte sich das Ergebnis der randomisierten Studie.

Prognoseschema auf Grundlage von Tumorstadium, Resektionsstatus und Ki-67-Bewertung

Martin Fassnacht resümiert: „Die begleitende Therapie mit Mitotane ist bei Patientinnen und Patienten mit niedriggradigem, lokalisierten Nebennierenkarzinom, bei dem der Tumor noch nicht metastasiert hat und vollständig entfernt werden konnte, nicht indiziert, da ihre Prognosen relativ gut sind und eine Behandlung mit Mitotane keine statistisch signifikante Verbesserung der Rückfallrate zeigt, dafür jedoch mit Nebenwirkungen verbunden ist.“ Anders ausgedrückt: „Unsere Studie ist ein erster Schritt in Richtung personalisierte Medizin bei dieser seltenen Erkrankung. Sie zeigt, dass es möglich ist, mit einem einfachen und weithin verfügbaren Prognoseschema auf der Grundlage von Tumorstadium, Resektionsstatus und Ki-67-Bewertung, eine Untergruppe von Patientinnen und Patienten zu identifizieren, deren Prognose viel besser ist als erwartet und bei denen eine aktive Überwachung das angemessenste Konzept ist.“

Würzburger Endokrinologie hat internationale Therapiestandards entscheidend geprägt

Die Endokrinologie am Universitätsklinikum Würzburg gilt als internationales Referenzzentrum für die Diagnose, Behandlung und Erforschung des Nebennierenkarzinoms und ist weltweit aktuell das größte Zentrum. Die meist hochgradig bösartige Entartung der Hormondrüsen, die paarig auf den Nieren sitzen, stehen schon seit mehr als 20 Jahren im Fokus der Würzburger Endokrinologie. Von hier aus werden das Europäische Nebennierentumornetzwerk (ENSAT) und die Deutsche Studiengruppe Nebennierenkarzinom koordiniert. „Mit unseren zahlreichen grundlagenwissenschaftlichen, translationalen und klinischen Studien haben wir in Würzburg mit einem großen interdisziplinären Team maßgeblich dazu beigetragen, die weltweite Diagnostik und Behandlung von Patientinnen und Patienten mit einem Nebennierenkarzinom zu verbessern“, bringt es Martin Fassnacht auf den Punkt.

Schon die Diagnose sei schwierig, da das Nebennierenkarzinom sehr selten ist und anfänglich keine Symptome verursacht. Daher wird es oft erst im fortgeschrittenem Stadium entdeckt. In Deutschland gibt es schätzungsweise jedes Jahr etwa 80 bis 120 Neuerkrankungen. Je nach Art des Tumors kann operiert werden, im fortgeschrittenen Stadium sind zusätzlich eine Chemotherapie oder Bestrahlungen nötig. Bislang war es üblich, alle Patientinnen und Patienten, unabhängig vom Tumorstadium, nach der Operation zusätzlich medikamentös zu behandeln. Derzeit ist Mitotane das einzige zugelassene Medikament beim Nebennierenkarzinom. Am Uniklinikum Würzburg laufen klinische Studien zu weiteren Medikamenten und Therapien.

Publikation:

Massimo Terzolo*, Martin Fassnacht*, Paola Perotti, Rossella Libé, Darko Kastelan, André Lacroix, Wiebke Arlt, Harm Reinout Haak, Paola Loli, Bénédicte Decoudier, Helene Lasolle, Marcus Quinkler, Magalie Haissaguerre, Olivier Chabre, Philippe Caron, Antonio Stigliano, Roberta Giordano, Maria Chiara Zatelli, Irina Bancos, Maria Candida Barisson Villares Fragoso, Letizia Canu, Michaela Luconi, Soraya Puglisi, Vittoria Basile, Giuseppe Reimondo, Matthias Kroiss, Felix Megerle, Stefanie Hahner, Otilia Kimpel, Tina Dusek, Svenja Nölting, Isabelle Bourdeau, Vasileios Chortis, Madeleine Hester Ettaieb, Deborah Cosentini, Salvatore Grisanti, Eric Baudin, Paola Berchialla, Francesca Bovis, Maria Pia Sormani, Paolo Bruzzi, Felix Beuschlein, Jerome Bertherat, Alfredo Berruti,

Adjuvant mitotane versus surveillance in low-grade, localised adrenocortical carcinoma (ADIUVO): an international, multicentre, open-label, randomised, phase 3 trial and observational study,

The Lancet Diabetes & Endocrinology, 2023, ISSN 2213-8587, https://doi.org/10.1016/S2213-8587(23)00193-6.

Das Nebennierenkarzinom ist eine bösartige Entartung einer der Hormondrüsen, die paarig jeweils als kleine Kappen der Niere aufsitzen. Mit 80 bis 120 Neuerkrankungen in Deutschland ist der Tumor sehr selten. Daher gibt es nur wenige Kliniken, die auf die Behandlung spezialisiert sind. Das UKW ist derzeit weltweit das größte Zentrum für die Diagnostik, Therapie und Forschung.

Bilder: © Nuklearmedizin Universitätsklinikum Würzburg